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'Das Fehlen an Einheit im Menschen'

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Anfang November 1915 hatte ich schon einige der Grundgedanken über den Menschen in G.’s System begriffen.

Der erste Punkt, den er betonte, war das Fehlen der Einheit im Menschen.

„Der größte Fehler ist“, sagte er, „zu glauben, der Mensch sei immer ein und derselbe. Der Mensch bleibt niemals für lange Zeit der gleiche. Er wandelt sich unaufhörlich. Selten bleibt er auch nur für eine halbe Stunde der gleiche. Wir glauben, dass ein Mensch, wenn er Iwan heißt, auch immer Iwan ist. Nichts dergleichen. Jetzt ist er Iwan, die nächste Minute Peter und wieder eine Minute später ist er Nikolaus, Sergius, Matthäus, Simon. Und Sie alle denken, er bleibe Iwan. Sie wissen, dass Iwan eine bestimmte Sache nicht zu tun vermag. Zum Beispiel kann er nicht lügen. Dann finden Sie heraus, dass er gelogen hat und sind darüber erstaunt, wie er es konnte. Und wirklich, Iwan kann nicht lügen; es war Nikolaus, der gelogen hat. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, kann Nikolaus nicht umhin, zu lügen. Sie werden erstaunt sein, was für eine Menge von Iwans und Nikolausen in einem Menschen leben. Wenn Sie diese beobachten lernen, brauchen Sie nicht mehr ins Kino gehen.“

„Hat dies irgendetwas mit dem Bewusstsein einzelner Körperteile und Organe zu tun?“ fragte ich ihn bei dieser Gelegenheit. „Ich verstehe die Wirklichkeit dieses Bewusstseins und habe sie auch oft gespürt. Ich weiß, dass nicht nur einzelne Organe, sondern jeder einzelne Teil des Körpers, der eine eigene Funktion hat, auch ein eigenes Bewusstsein besitzt. Die rechte Hand hat ein anderes Bewusstsein als die linke. Ist es das, was Sie meinen?“

„Nicht ganz“, antwortete G. „Diese Art von Bewusstsein gibt es auch, sie ist aber verhältnismäßig harmlos. Eine jede kennt ihren Platz und ihre Aufgabe. Die Hände wissen, dass sie arbeiten müssen, die Füße, dass sie gehen müssen. Aber diese Iwans, Peters und Nikolause sind anders. Sie nennen sich alle ‚Ich’. Das heißt, sie fühlen sich alle als Herren und keiner will den anderen anerkennen, jeder ist Kalif für eine Stunde, macht rücksichtslos, was er will, und später müssen die anderen es ausbaden. Und es gibt gar keine Ordnung unter ihnen. Wer immer die Oberhand gewinnt, ist Herr. Er verprügelt alle anderen und kümmert sich um nichts. Aber im nächsten Augenblick ergreift ein anderer die Peitsche und schlägt ihn. Und so geht es fort durch das ganze Leben. Denken Sie sich ein Land, wo ein jeder für fünf Minuten König sein kann und für seine fünf Minuten alles mit dem Königreich anstellen kann, was ihm passt. Das ist unser Leben.“

Während eines dieser Gespräche kam G. erneut auf die Idee der verschiedenen menschlichen Körper zurück.

„Dass der Mensch verschiedene Körper haben kann, muss als Idee, als Prinzip verstanden werden. Aber es betrifft nicht uns. Wir wissen, dass wir einen physischen Köper haben, und sonst wissen wir nichts. Es ist dieser physische Leib, den wir kennenlernen müssen. Nur müssen wir immer im Auge behalten, dass die Frage sich mit dem physischen Körper nicht erschöpft und dass es Menschen gibt, die zwei, drei oder mehr Körper haben können. Aber das macht für uns persönlich keinen Unterschied. Jemand wie Rockefeller in Amerika kann eine Menge Millionen haben, aber diese Millionen nützen mir nichts, wenn ich nichts zu essen habe. In unserem Falle ist es genau das gleiche. Jeder muss an sich denken. Es ist nutz- und sinnlos, sich auf andere zu verlassen oder sich mit dem Gedanken an das zu trösten, was andere besitzen.“

„Wie kann man erkennen, ob ein Mensch einen ‚Astralkörper’ besitzt?“ fragte ich.

„Es gibt bestimmte Wege, um das zu erkennen“, antwortete G. „Unter gewissen Bedingungen kann man den ‚Astralkörper’ sehen. Er kann vom physischen Körper getrennt und sogar neben diesem photographiert werden. Die Existenz des ‚Astralköpers’ kann noch leichter und einfacher durch seine Funktionen erkannt werden. Der ‚Astralkörper’ hat bestimmte Funktionen, die der physische Leib nicht haben kann. Das Dasein dieser Funktionen lässt das Dasein des ‚Astralkörpers’ erkennen. Das Fehlen dieser Funktionen zeigt das Fehlen des ‚Astralkörpers’ an. Aber es ist noch zu früh, hiervon zu sprechen. All unsere Aufmerksamkeit muss vorerst auf das Studium des physischen Leibes beschränkt bleiben. Es ist notwendig, die Struktur der menschlichen Maschine zu verstehen. Unser Hauptirrtum ist, zu glauben, dass wir nur ein einziges Funktionszentrum besitzen. Dessen Funktionen nennen wir ‚bewusst’, alles, was nicht unter dieses Zentrum fällt, nennen wir ‚unbewusst’ oder ‚unterbewusst’. Das ist unser Hauptirrtum. Vom Bewussten und vom Unbewussten wollen wir später sprechen. Im Augenblick möchte ich Ihnen nur klarmachen, dass die Tätigkeit der menschlichen Maschine, das heißt unseres physischen Körpers, nicht durch ein, sondern durch mehrere Funktionszentren geleitet wird, die voneinander völlig unabhängig sind, getrennte Aufgaben haben und getrennte Bereiche, in denen sie sich äußern. Das muss vor allen Dingen verstanden werden, denn sonst kann man gar nichts anderes verstehen.“

Danach fuhr G. fort, die verschiedenen Funktionen des Menschen und die Zentren, die diese Funktionen lenken, in der Art zu erklären, wie sie in den psychologischen Vorlesungen dargelegt sind.

Diese Erklärungen und alle mit ihnen verbundenen Aussprachen dauerten ziemlich lange, und fast bei jedem Gespräch kamen wir erneut auf die grundsätzlichen Ideen von der Mechanisiertheit des Menschen, dem Fehlen der Einheit im Menschen zu sprechen – dass der Mensch keine Möglichkeit der Wahl habe, unfähig sei zu tun und so fort.


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Jemand fragte bei einer Zusammenkunft:

„Wie soll man den Begriff der Evolution verstehen?“

„Die Evolution des Menschen“, antwortete G., „kann man als die Entwicklung der Kräfte und Anlagen verstehen, die sich niemals von selbst, das heißt mechanisch, entwickeln. Nur diese Art Entwicklung, diese Art Wachstum kennzeichnet die wirkliche Evolution des Menschen. Es gibt und kann keine andere Art von Evolution geben.

„Betrachten wir einen Mensch im jetzigen Stadium seiner Entwicklung. Die Natur hat ihn so gemacht wie er ist, und in der großen Masse wird er auch, soweit wir sehen können, so bleiben. Wandlungen, die möglicherweise die allgemeinen Erfordernisse der Natur verletzt, können nur in einzelnen Menschen stattfinden.

„Um das Gesetz menschlicher Evolution zu verstehen, ist es notwendig zu begreifen, dass über einen gewissen Punkt hinaus diese Evolution gar nicht notwendig ist, das heißt nicht notwendig für die Natur in einem bestimmten Zeitpunkt ihrer eigenen Entwicklung. Um es noch genauer zu sagen: die Evolution der Menschheit entspricht der Evolution der Planeten, aber die Evolution der Planeten geschieht in für unsere Begriffe unermesslichen Zeiträumen. Im Verlauf des Zeitraumes, den das menschliche Denken umfassen kann, können keine wesentlichen Veränderungen im Leben der Planeten vor sich gehen und kann infolgedessen auch keine wesentliche Wandlung im Leben der Menschheit stattfinden.

„Die Menschheit schreitet weder voran noch entwickelt sie sich. Was uns Fortschritt oder Entwicklung zu sein scheint, ist nur eine teilweise Veränderung, die sofort durch eine entsprechende Veränderung in entgegengesetzter Richtung ausgeglichen wird.

„Die Menschheit, wie auch das übrige organische Leben, besteht auf der Erde für den Zweck und Nutzen dieser Erde. Und sie ist genau den Erfordernissen der Erde zur jetzigen Zeit angepasst.

„Nur ein so theoretisches und so weit von der Wirklichkeit entferntes Denken wie das heutige europäische konnte dazu kommen, eine menschliche Evolution außerhalb der sie umgebenden Natur für möglich zu halten oder die Evolution des Menschen als eine langsame Eroberung der Natur zu betrachten. Das ist völlig ausgeschlossen. Im Leben, Sterben, Sich-Entwickeln, im Entarten dient der Mensch gleicherweise den Zwecken der Natur, oder besser die Natur verwendet gleichermaßen, wenn auch vielleicht für verschiedene Zwecke, sowohl die Ergebnisse der Evolution als auch der Entartung. Und ferner kann die Menschheit als Ganzes niemals der Natur entrinnen, denn sogar im Kampf gegen die Natur handelt der Mensch in Übereinstimmung mit ihren Zwecken. Die Evolution großer Massen ist den Zwecken der Natur entgegengesetzt; die Evolution eines gewissen geringen Prozentsatzes mag mit ihren in Einklang stehen. Der Mensch hat in sich die Möglichkeit zur Evolution. Aber die Evolution der Menschheit als Ganzes, das heißt die Entwicklung dieser Möglichkeiten in allen Menschen oder in den meisten oder sogar nur in einer größeren Anzahl ist für die Zwecke der Erde oder der Planetenwelt nicht notwendig, und sie könnte für sie sogar schädlich oder tödlich sein. Daher bestehen besondere Kräfte (planetarischen Charakters), die sich der Evolution großer Menschenmassen entgegenstellen und die sie auf der Stufe festhalten, wo sie bleiben sollen.

„Zum Beispiel würde die Entwicklung der Menschheit über einen gewissen Punkt hinaus, oder, um es genauer zu sagen, über einen gewissen Prozentsatz hinaus, tödlich für den Mond sein. Der Mond nährt sich vom organischen Leben, von der Menschheit. Die Menschheit ist ein Teil des organischen Lebens, das heißt, dass die Menschheit die Nahrung für den Mond darstellt. Wenn alle Menschen zu intelligent würden, dann würden sie nicht mehr vom Mond gefressen werden wollen.

„Aber trotzdem gibt es die Möglichkeit der Evolution, und sie kann in einzelnen Individuen mit Hilfe der geeigneten Kenntnisse und Methoden entwickelt werden. Solche Entwicklung liegt nur im Interesse des Menschen allein, ist sozusagen gegen die Interessen und Kräfte der planetarischen Welt. Der Mensch muss verstehen: seine Entwicklung ist allein für ihn selbst notwendig. Niemand anders ist daran interessiert. Und niemand ist verpflichtet oder beabsichtigt, ihm zu helfen. Im Gegenteil, die Kräfte, die der Entwicklung großer Menschheitsmassen Widerstand leisten, widersetzen sich auch der Entwicklung des einzelnen. Der Mensch muss sie überlisten. Und einer kann sie überlisten, die ganze Menschheit nicht. Später werden Sie verstehen, dass alle diese Hindernisse für den Menschen sehr nützlich sind; wenn sie nicht bestehen würden, müssten sie absichtlich geschaffen werden, denn nur durch Überwindung von Schwierigkeiten kann ein Mensch die für ihn notwendigen Eigenschaften entwickeln.

„Dies ist die Grundlage einer richtigen Ansicht über die menschliche Evolution. Es gibt keine zwangsmäßige mechanische Evolution. Evolution ist das Ergebnis eines bewussten Kampfes. Die Natur braucht diese Evolution nicht, sie will sie nicht und kämpft gegen sie an. Evolution kann aber nur dann zum Bedürfnis des Menschen werden, wenn er seine Lage und die Möglichkeit, diese Lage zu verändern, erkennt; wenn er einsieht, dass er Kräfte hat, die er brachliegen lässt, Reichtümer, die er nicht nützt. Im Sinne der Nutzbarmachung dieser Kräfte und Reichtümer ist Evolution möglich. Aber wenn alle Menschen oder die meisten dies gewahr würden und erreichen wollten, was ihnen als Geburtsrecht zusteht, würde Evolution wiederum unmöglich werden. Was für den einzelnen möglich ist, bleibt für die Massen unmöglich.

„Der Vorteil des einzelnen Individuums ist seine Kleinheit; es macht im Haushalt der Natur keinen Unterschied, ob ein mechanischer Mensch mehr oder weniger da ist. Wir können dieses Größenverhältnis leicht verstehen, wenn wir uns das Verhältnis einer mikroskopischen Zelle zu unserem eigenen Körper veranschaulichen. Das Dasein oder Fehlen einer Zelle ändert nichts am Leben des ganzen Körpers. Wir können ihrer nicht bewusst werden, und sie kann keinen Einfluss auf das Leben oder die Funktionen des Organismus haben. Genau im gleichen Maße ist ein einzelnes Individuum zu klein, um das Leben des kosmischen Organismus zu beeinträchtigen, zu dem es, was die Größe anbetrifft, im gleichen Verhältnis steht wie die Zelle zu unserem Organismus. Und das ist es, was seine ‚Evolution’ ermöglicht, hierauf beruhen seine ‚Möglichkeiten’.

„Wenn wir von Evolution sprechen, müssen wir von Anfang an verstehen, dass keine mechanische Evolution möglich ist. Die Evolution des Menschen ist die Evolution seines Bewusstseins. Und Bewusstsein kann sich nicht unbewusst entwickeln. Die Evolution des Menschen ist die Evolution seines Willens, und der ‚Wille’ kann sich nicht unwillkürlich entwickeln. Die Evolution eines Menschen ist die Evolution seiner Fähigkeit zu ‚tun’, und das ‚Tun’ kann nicht das Ergebnis von Dingen sein, die ‚geschehen’.

„Die Leute wissen nicht, was ein Mensch eigentlich ist. Sie haben es hier mit einer sehr komplizierten Maschine zu tun, viel komplizierter als eine Lokomotive, ein Auto oder ein Flugzeug – aber sie wissen gar nichts oder fast gar nichts über Bauart, Arbeitsgang und Möglichkeiten dieser Maschine. Sie verstehen nicht einmal ihre einfachsten Funktionen, weil sie den Zweck dieser Funktionen nicht kennen. Sie haben eine ungefähre Vorstellung, dass der Mensch seine Maschine lenken lernen müsse, genau so wie er eine Lokomotive, ein Auto oder ein Flugzeug lenken lernen muss, und dass unsachgemäße Handhabung der menschlichen Maschine genau so gefährlich ist wie unsachgemäße Handhabung irgendeiner anderen komplizierten Maschine. Jeder versteht dies hinsichtlich des Flugzeuges, des Autos oder einer Lokomotive. Aber nur sehr selten zieht einer dies in Betracht für den Menschen im Allgemeinen oder für sich im Besonderen. Man denkt, es sei richtig zu glauben, dass die Natur dem Menschen die notwendige Kenntnis seiner Maschine gegeben habe; und dabei wissen doch die Menschen, dass instinktive Kenntnis einer Maschine unter keinen Umständen genug ist. Warum studieren sie Medizin und gebrauchen ihre Dienste? Natürlich weil sie einsehen, dass sie ihre Maschine nicht kennen. Aber sie vermuten nicht, dass man sie viel besser kennen kann als die Wissenschaft dies tut; sie vermuten nicht, dass man sie zu einer ganz anderen Leistung bringen kann.“


Sehr oft, fast bei jedem Gespräch, kam G. erneut auf das Fehlen der Einheit im Menschen zu sprechen.

„Einer der Hauptirrtümer des Menschen“, sagte er, „den man sich immer vor Augen halten muss, ist seine Täuschung in Bezug auf sein Ich.

„Der Mensch, wie wir ihn kennen, die ‚Maschine Mensch’, der Mensch, der nicht ‚tun’ kann und mit dem und durch den alles ‚geschieht’, kann kein dauerndes und einziges Ich haben. Sein Ich wechselt mit gleicher Geschwindigkeit wie seine Gedanken, Gefühle und Stimmungen, und er begeht einen gewaltigen Irrtum, wenn er sich immer für ein und die gleiche Person hält; in Wirklichkeit ist er immer eine verschiedene Person, nicht die gleiche, die er im vorigen Augenblick war.

„Der Mensch hat kein bleibendes und unveränderliches Ich. Jeder Gedanke, jede Stimmung, jede Begierde, jede Empfindung sagt Ich. Und in jedem Fall hält man es für selbstverständlich, dass dieses Ich zum Ganzen gehört, zum ganzen Menschen, und dass ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Abneigung Ausdruck dieses Ganzen ist. Faktisch besteht überhaupt kein Grund für diese Annahme. Jeder Gedanke und jede Begierde des Menschen entsteht und lebt ganz getrennt und unabhängig vom Ganzen. Und dieses Ganze drückt sich einfach darum nicht aus, weil es als solches nur physisch besteht und abstrakt als ein Begriff. Der Mensch hat kein individuelles Ich. Aber an dessen Stelle gibt es Hunderte und Tausende getrennter kleiner Ichs, die sich oft untereinander gar nicht kennen, nie zueinander in Beziehung treten oder sogar im Gegenteil feindlich gegeneinander eingestellt sind, da sie einander ausschließen und unvereinbar sind. Jede Minute, jeden Augenblick sagt oder denkt man Ich, und jedes Mal ist dieses Ich verschieden. Gerade jetzt war es ein Gedanke, nun ist es eine Begierde, dann eine Empfindung, dann wieder ein Gedanke, und so weiter ohne Ende. Der Mensch ist eine Vielheit. Sein Name ist Legion.

„Der Wechsel der Ichs, ihr offensichtlicher dauernder Kampf um die Herrschaft wird durch zufällige äußere Einflüsse gelenkt. Wärme, Sonnenschein, schönes Wetter rufen sofort eine ganze Gruppe von Ichs auf den Plan. Kälte, Nebel, Regen rufen eine andere Gruppe von Ichs hervor, andere Assoziationen, andere Gefühle und andere Handlungen. Nichts im Menschen kann diesen Wechsel von Ichs lenken, vor allem, weil er davon gar nichts weiß, es nicht bemerkt; er lebt immer im letzten Ich. Manche Ichs sind natürlich stärker als andere. Aber es ist nicht ihre eigene, bewusste Stärke; sie wurde durch die Stärke von Zufällen oder mechanischen äußeren Einflüssen geschaffen. Erziehung, Nachahmung, Lesen, der hypnotische Einfluss von Religion, Kaste und Tradition oder der Glanz neuer Schlagworte schaffen in der Persönlichkeit eines Menschen sehr starke Ichs, die ganze Reihen schwächerer, anderer Ichs beherrschen. Aber ihre Stärke ist die Stärke der Eindrücke, die in den ‚Rollen’ der Zentren verzeichnet sind. Und alle Ichs, aus denen die Persönlichkeit des Menschen besteht, haben den gleichen Ursprung wie diese ‚Rollen’, sie sind das Ergebnis äußerer Einwirkungen; und beide, sowohl ‚Rollen’ als auch Ichs, werden durch neue äußere Einflüsse in Bewegung gesetzt und gelenkt.

„Der Mensch hat keine Individualität. Er hat kein einziges großes Ich. Der Mensch ist in eine Vielfalt kleiner Ichs geteilt.

„Und jedes einzelne kleine Ich ist fähig, sich das Ganze zu nennen, im Namen des Ganzen zu handeln, zuzustimmen oder abzulehnen, Versprechen zu geben, Entscheidungen zu treffen, was ein anderes Ich oder das Ganze dann ausbaden muss. Dies erklärt, warum Menschen so oft Entscheidungen treffen und sie so selten ausführen. Ein Mensch entschließt sich, von morgen ab früh aufzustehen. Ein Ich oder eine Gruppe von Ichs beschließt dies. Aber das Aufstehen fällt unter die Zuständigkeit eines ganz anderen Ichs, das diese Entscheidung vollständig ablehnt oder sogar nichts davon weiß. Natürlich wird der Mensch fortfahren, den Morgen zu verschlafen und am Abend wird er sich erneut entschließen, früh aufzustehen. In manchen Fällen kann dies sehr unangenehme Folgen für den Menschen haben. Ein kleines zufälliges Ich mag etwas versprechen, nicht sich selbst, sondern jemand anderem, einfach aus Eitelkeit oder aus Spaß. Dann verschwindet es und der Mensch, das heißt die gesamte Summe anderer Ichs, die ganz unschuldig daran sind, müssen ihr ganzes Leben dafür bezahlen. Es ist die Tragödie des Menschen, dass jedes kleine Ich das Recht hat, Schecks und Wechsel zu unterzeichnen und der Mensch, das heißt das Ganze, dafür aufzukommen hat. Oft besteht das ganze Leben eines Menschen darin, Wechsel kleiner, zufälliger Ichs einzulösen.

„Die östlichen Lehren enthalten zahlreiche allegorische Bilder, die versuchen, die Natur des Menschen von diesem Gesichtspunkt aus zu schildern.

„So wird in einer Lehre der Mensch einem Haus verglichen, in dem es eine Menge Diener gibt, aber kein Herr und kein Haushälter da sind. Die Dienstboten haben alle ihre Pflichten vergessen; niemand tut, was er soll. Jeder versucht, den Herrn zu spielen, wenn auch nur für einen Augenblick, und durch diese Unordnung droht dem ganzen Haus große Gefahr. Die einzige Rettungsmöglichkeit besteht darin, dass eine Gruppe vernünftiger Diener sich versammelt und einen zeitweiligen Haushälter erwählt, das heißt einen stellvertretenden Haushälter. Dieser stellvertretende Haushälter kann dann die anderen Diener auf ihren Platz verweisen und darauf sehen, dass jeder seine eigene Arbeit verrichtet: der Koch in der Küche, der Kutscher im Stall, der Gärtner im Garten und so fort. Auf diese Weise kann das ‚Haus‘ für die Ankunft des wirklichen Haushälters vorbereitet werden, er es dann seinerseits für die Ankunft des Herrn vorbereitet.

„Der Vergleich des Menschen mit einem Haus, das die Ankunft seines Herrn erwartet, ist häufig in östlichen Lehren zu finden, in denen sich noch Spuren alten Wissens erhalten haben, und wie wir wissen, taucht dieses Thema auch in verschiedener Form in vielen Gleichnissen der Evangelien auf.

„Aber auch das klarste Verstehen seiner Möglichkeiten wird einen Menschen ihrer Verwirklichung nicht näher bringen. Um diese Möglichkeiten zu verwirklichen, muss er einen sehr starken Wunsch nach Befreiung verspüren und muss bereit sein, für seine Befreiung alles zu opfern und alles zu wagen.“

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Kapitel 3 - Auf der Suche nach dem Wunderbaren - P. D. Ouspensky

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